Wie Plattformkulturen unser Publikum formen – und was das über digitale Machtverhältnisse verrät
Neulich bin ich über einen Post eines Politinfluencers gestoßen, der sich über die geschlechtliche Zusammensetzung seines Publikums auf unterschiedlichen Plattformen - wohlgemerkt bei gleichem Inhalt - wunderte. Auf YouTube wären 80–90 % ihres Publikums männlich, auf Spotify etwa 60–70 %, auf Instagram nur ~45 %, auf TikTok sogar nur ~30 %.
Diese Unterschiede sind kein Zufall. Sie entstehen aus einem komplexen Zusammenspiel von Plattformkulturen, algorithmischen Verstärkungsmechanismen und tief sitzenden kulturellen Codierungen von Geschlecht, Wissen und Kommunikation.
Im Folgenden erläutere ich, warum du bei politischem (oder politisch geprägtem) Content häufig so unterschiedliche Geschlechteranteile siehst — und was du daraus als Stratege, Content Creator oder politisch Aktiver lernen kannst.
Plattform-Kodierung und Medialer Stil
Jede Plattform trägt eine Art „kommunikativen Habitus“ in sich — sie prägt, welche Art von Sprache, Bildsprache, Rhythmus und Interaktionsform dort eher funktioniert.
YouTube ist strukturell auf monologische Formate ausgerichtet: Erklärvideos, Analysen, Debatten, Tutorials. Diese Formen appellieren an ein Publikum, das Informationsorientierung, Autorität und argumentative Klarheit schätzt – Merkmale, die in Studien überproportional mit männlichen Nutzungspräferenzen korrelieren (vgl. Media Perspektiven 10/2023)
TikTok und Instagram dagegen sind stärker visuell, performativ und emotional codiert. Hier zählt nicht die Länge des Arguments, sondern die Dichte des Ausdrucks, die affektive Ansteckung, der ästhetische Impuls. Die Plattformen sind auf Beziehung, Nähe und Identifikation ausgelegt – und ziehen daher häufiger weibliche Nutzer:innen an. Instagram schlägt dabei eine Brücke: visuell, personalisiert, zugleich narrativ, weniger lang als YouTube, aber weniger radikal schnell als TikTok.
Spotify liegt in der Mitte: Es bietet Information, aber im auditiven Modus, der Intimität schafft – weniger „Debatte“, mehr „Gespräch“.
Diese Codes sind nicht wertfrei. Sie strukturieren, welche Formen von Wissen sichtbar werden – und welche unsichtbar bleiben
Politische Kommunikation und Geschlecht
Wenn dein Content “überwiegend politischer Natur” ist — Fakten, Analysen, Argumente — dann erreichst du in Plattformen, die solche Formate begünstigen, tendenziell mehr Männer. Denn Studien zeigen Unterschiede im politischen Nutzungsverhalten:
In der Studie „Politische Informationen und Diskussionen in Sozialen Medien“ (2023) gaben Männer an, Angebote zur politischen Information intensiver zu nutzen als Frauen — z. B. Öffentlich-Rechtliches mindestens einmal pro Woche: 68 % Männer vs. 58 % Frauen. In derselben Studie wurde zudem erfasst: Nutzer:innen politischer Inhalte unterscheiden sich zwischen Plattformen — manche Plattformen (z. B. Twitter, Facebook) sind stärker auf politische Diskussion ausgerichtet, andere stärker auf Unterhaltung.
Statista Umfrage
Andere Studien fokussieren geschlechtsspezifische Kommunikation online. So kommt eine Erhebung von Statista zum Schluss, dass Frauen seltener ihre politische Meinung online kundtun als Männer — was auf eine tendenzielle Zurückhaltung oder andere Nutzungsstrategien hinweist..
Das heißt zusammengefasst: Frauen konsumieren Politik seltener in Form argumentativer Diskurse, sondern stärker über soziale und narrative Kontexte – also über Erfahrungsbezüge, Alltag, Beziehungen.
Dasselbe Muster findet sich online: Männer engagieren sich häufiger in Plattformen, die politische Diskussion als Wettkampf der Argumente inszenieren (YouTube, X/Twitter), während Frauen stärker auf Plattformen aktiv sind, die politische Inhalte über Empathie, Storytelling und Community-Logik vermitteln (Instagram, TikTok).
Diese Beobachtung bestätigt: Es ist nicht der Inhalt an sich, der entscheidet, wer ihn konsumiert – sondern die kommunikative Form, in der er dargeboten wird.
Algorithmische Verstärkung & Rückkopplungseffekte
Über die inhaltliche Ausrichtung hinaus wirken die algorithmischen Mechanismen der Plattformen. Diese Mechanismen bevorzugen Inhalte, die eine hohe Relevanz, Engagement oder Resonanz erzeugen — und pushen sie weiter in ähnliche Nutzer:innenkreise. Wenn also ein männlich geprägtes Publikum auf YouTube stärker mit deinem Content interagiert (längere Watch Time, Kommentare, Klicks), schiebt der Algorithmus deinen Content häufiger in Netzwerke, in denen ebenfalls viele Männer sind.
Ein interessantes (wenn auch spezifischeres) Beispiel: Eine Studie über algorithmische Verstärkung auf Twitter fand, dass rechte Inhalte systematisch mehr algorithmische Aufmerksamkeit bekamen.
Außerdem ist bekannt, dass Plattformalgorithmen oft auf Muster zurückgreifen, die geschlechtliche oder demografische Resonanz verstärken — etwa: „Wer interagiert mit ähnliche Inhalten? Dann zeige ihm weiter ähnliche Inhalte.“
Diese Rückkopplungseffekte stabilisieren Geschlechterverteilungen. Plattformen „lernen“ Zielgruppen – und schreiben sie zugleich fort. Das gilt nicht nur für Geschlecht, sondern auch für Alter, politische Orientierung oder Bildungsgrad. In der Sprache der Algorithmen heißt das „Optimierung“, in der Sprache der Kulturtheorie: Reproduktion sozialer Muster..
Identifikation, Symbolik und Performanz
Publikum ist nie neutral. Es identifiziert sich mit bestimmten Sprechhaltungen, Gesten, Symboliken und das Publikum wählt demnach nicht nur aufgrund von Content, sondern auch aufgrund von (symbolischer) Identifikation. Wer spricht zu mir? Mit welchem Stil? Und: Welche mediale Rolle wird mir als (potenzielles) Publikum zugewiesen?
YouTube wurde über Jahre stark von männlich geprägten Erklär- und Kommentatorenkanälen dominiert — das erzeugt ein (unbewusstes) Bild: „Hier sprechen Experten, ich rezipiere.“
TikTok und Instagram dagegen öffnen Räume, in denen Nähe, Humor und Vulnerabilität sozial aufgewertet sind. Dort gilt Glaubwürdigkeit weniger über Rationalität als über Authentizität.
Demnach spielt auch der Stil eine Rolle: Tonfall, Sprechgeschwindigkeit, Präsenz, visuelle Gestaltung — je nachdem, wie stark du dich (bewusst oder unbewusst) an (maskuline) Expert*innenstereotype annäherst, wirst du in bestimmten Plattformkontexten mehr Frauen abschrecken oder weniger anziehen.
Plattformen reproduzieren Geschlechterordnungen
Diese Unterschiede dürfen nicht als Ausdruck „natürlicher“ Geschlechterneigungen gelesen werden. Sie sind das Resultat von historisch gewachsenen, medial verstärkten Geschlechterordnungen. Plattformen wie YouTube oder TikTok sind keine neutralen Räume, sondern Produkte einer Kultur, in der Wissen, Emotion und Körper seit Jahrhunderten geschlechtlich hierarchisiert werden.
YouTube etwa wurde in seinen Anfangsjahren von technikaffinen, überwiegend männlichen Nutzern geprägt. Die Plattform belohnt bis heute jene Ausdrucksformen, die im westlichen Denken als „rational“, „faktenorientiert“ und „objektiv“ gelten – Kategorien, die seit der Aufklärung als männlich codiert sind. TikTok und Instagram hingegen privilegieren affektive, körperlich-visuelle Kommunikation – Ausdrucksformen, die in patriarchalen Kulturen lange als „weiblich“ abgewertet wurden.
Feministische Theoretikerinnen wie Donna Haraway („Situated Knowledges“, 1988) oder Judith Butler („Gender Trouble“, 1990) erinnern daran, dass diese Zuschreibungen sozial konstruiert und performativ hergestellt sind. Plattformen wirken dabei als digitale Dispositive, die solche Performanzen algorithmisch stabilisieren.
Wenn also auf YouTube die „rationale Analyse“ belohnt und auf TikTok der „emotionale Ausdruck“ gefeiert wird, handelt es sich nicht um biologische Unterschiede, sondern um eine algorithmische Übersetzung patriarchaler Wertordnungen: das eine gilt als Expertise, das andere als Emotion. Beides sind Kommunikationsformen – aber nur eine wird traditionell mit Macht verbunden.
Konsequenzen für digitale Strategien
Wer online kommuniziert, muss verstehen, dass Plattformen nicht nur technische Infrastrukturen sind, sondern kulturelle Räume mit geschlechtlich codierten Erwartungen.
Inhalte, die Autorität beanspruchen, werden auf YouTube eher belohnt, während dieselbe Tonalität auf TikTok schnell als „zu professoral“ gilt. Umgekehrt können narrative, relationale oder humorvolle Formen politische Inhalte für neue Zielgruppen öffnen – nicht, weil sie „vereinfachen“, sondern weil sie andere Formen von Wissen anerkennen.
Strategisch heißt das: Wer digitale Kommunikation betreibt, sollte nicht zwischen „männlich“ und „weiblich“ denken, sondern zwischen den Plattformgrammatiken, die bestimmte Subjektpositionen ermöglichen oder ausschließen.
Tabelle: Praxistools für deine Plattformstrategien
Die Geschlechterunterschiede im digitalen Publikum sind keine statistische Randnotiz, sondern ein Fenster in die Struktur digitaler Macht. Plattformen sind nicht nur Distributionskanäle, sie sind kulturelle Akteure: Sie formen, was wir für rational, glaubwürdig oder relevant halten – und sie tun das entlang von Linien, die tief in der Geschichte westlicher Wissensordnungen verlaufen.
Wenn wir das verstehen, können wir digitale Kommunikation bewusster gestalten – nicht als Anpassung an algorithmische Erwartungen, sondern als Versuch, sie zu verschieben.
Vielleicht liegt die Zukunft politischer Kommunikation genau dort: in der Verbindung von Argument und Affekt, Analyse und Empathie, Rationalität und Resonanz.